Transkript der Eröffnungsrede
Dr. Karl-Heinz Pohl (Februar 2024)
Cui Zhenkuan gilt zu recht als einer wichtigsten zeitgenössischen Maler Chinas. Er wurde 1935 in Xi’an geboren, wird also bald 90 Jahre alt. In Xi’an gibt es seit 2016 ein eigenes Museum für seine Werke – es beeindruckt durch seine Größe und Ausstattung und unterstreicht Cuis Bedeutung in der chinesischen Kunstszene. Cui Zhenkuan war ein Schüler von Huang Binhong (1864-1955); insofern wird sogar von einer Huang-Cui-Schule gesprochen.
Man könnte Cui Zhenkuan beschreiben als einen künstlerischeren Wanderer zwischen den Welten, zwischen Ost und West, aber auch als einen künstlerischen Wanderer zwischen den Zeiten, zwischen Tradition und Moderne sowie zwischen Realismus und Abstraktion.
Die Kunst der westlichen Moderne ist in überwältigender Weise global einflussreich geworden, und doch gibt es überall auf der Welt kulturspezifische Aneignungen bzw. Verbindungen zwischen lokalen Traditionen und der westlichen Moderne. So auch in Cui Zhenkuans Werk. Es stellt eine eigenständige Weiterführung der traditionellen chinesischen Malerei in die heutige Epoche dar. Und dazu hat er eine ganz eigene Formensprache geschaffen. Den Zusammenhang von Tradition und Moderne im Werk von Cui Zhenkuan möchte ich im Folgenden ein wenig näher erläutern.
Aus meiner Sicht gibt es verschiedene ästhetische Prinzipien der traditionellen chinesischen Malerei, von denen sich einige in Cui Zhenkuans Werken wiederfinden lassen. Vier davon seien hier vorgestellt.
1. In der traditionellen chinesischen Malerei sollte ein Gemälde vor allem poetische Qualitäten besitzen.
Angestrebt wird keine Abbildung der Wirklichkeit (Naturtreue – xingsi 形似), sondern die Vermittlung einer "Idee" (yi 意) des Künstlers, auch von dessen Vitalität (qi 气). Darüber hinaus geht es darum, eine suggestiv wirkende poetische Qualität zu vermitteln. In der Dichtung spricht man von Andeutungsreichtum (xing 兴) sowie davon, dass die „Bedeutung jenseits der Worte“ liege (yan wai zhi yi 言外之意). Der Dichter Sikong Tu 司空图der Tang-Zeit (9. Jh.) hat für dieses Anliegen sprechende Formulierungen geprägt: „Bilder jenseits der Bilder“ (xiang wai zhi xiang 象外之象) und „Szenerien jenseits von Szenerien“ (jing wai zhi jing 景外之景). Es geht also darum, über das eigentlich in Worten Beschriebene hinaus eine poetische Wirkung zu entfalten.
Das Gleiche gilt für die Malerei: Ziel ist, über das Gemalte hinaus eine ästhetische Wirkung zu erzeugen. So heißt es in den "Vierundzwanzig Qualitäten der Malerei" (Ershisi huapin 二十四画品) des Literaten Huang Yue (黄钺 18./19. Jh.): "Das Wunderbare liegt jenseits des Gemalten" (miao zai hua wai 妙在画外).
In der Malerei spricht man auch seit Gu Kaizhi 顾恺之 (ca. 345–ca. 406) von der „Vermittlung von etwas Geistigem“ (chuan shen 传神) bzw. von „Vermittlung von Geistigem durch die Form“ (yi xing xie shen 以形写神). Angestrebt ist also kein Realismus, wodurch eine gewisse Nähe zu unserer modernen westlichen abstrakten Malerei besteht.
Der berühmte Dichter Su Dongpo (苏东坡 11. Jh.) hat dieses Verhältnis zu Naturtreue in folgendes Gedicht gefasst:
"Wer in der Malerei von Naturtreue spricht,
der hat den Verstand eines Kindes.
Wer Gedichte regelhaft verfasst,
der versteht nichts vom Wesen der Dichtung.
Dichtung und Malerei verfolgen ein Ziel:
wie das Werk der Natur: Klar und frisch.“
Und in der Yuan-Zeit schrieb der bedeutende Literatenmaler Ni Zan (倪瓒14. Jh.) zu diesem Thema:
"Was ich Malerei nenne, ist einfach spontanes, freies Pinselspiel.
Es zielt nicht auf Naturtreue hin und ist nur gut für mein eigenes Vergnügen."
Diese Einstellung zur Naturtreue ist auch in Cui Zhenkuans Werk zu finden. Man könnte sagen, seine Bilder sind jenseits von Realismus und Abstraktion zu verorten. Anders gesagt, wir finden eine Einheit von beidem – eine gewisse Naturtreue und eine geistige Dimension (nicht: entweder – oder). So geht Cui Zhenkuan vom Konkreten aus, seine Werke weisen aber über das Konkrete hinaus („jenseits des Konkreten“) und sind somit auch andeutungsreich.
Dafür sprechen auch die Titel seiner Bilder: „Berge jenseits von Bergen“ (shan wai shan 山外山); „Berge nicht Berge“ (shan fei shan 山非善); „Der andere Berg“ (ta shan 它山); „Bild nicht Bild“ (hua fei hua 画非画) oder „Vom Kleinen aus das Große sehen“ (yi xiao guan da 以小观大). An diesen Formulierungen sehen wir deutlich seine Verbindung zu den Prinzipien der traditionellen chinesischen Ästhetik.
2. Formeln und Konventionen
Eine hierzulande kaum bekannte Besonderheit der chinesischen Malerei ist, dass sie stark von Konventionen und Formeln geprägt ist. Dazu gehören bildliche Anspielungen (auf alte Meister) sowie formelhafte Darstellungen von Bäumen und anderen bildlichen Elementen. Vor allem aber hat man ein ganzes Arsenal an Texturstrichen (cunfa 皴法), mit denen Bergen Kontur und Textur verliehen wird. Das Schriftzeichen cun bedeutet eigentlich „Runzeln“ (wie im Gesicht); so sind die Texturstriche als das zu sehen, was einem Gegenstand (vor allem Bergen und Felsen) Fülle verleiht. Spätere Theoretiker haben die alten Meister nach ihren Texturstrichen klassifiziert, so galten die Texturstriche, die wie „wirrer Hanf“ aussehen (pima cun 披麻皴), als das Kennzeichen der song- und yuan-zeitlichen Literatenmaler, wohingegen die Texturstriche, die wie „Axthiebe“ (fupi cun 斧劈皴) wirken, den professionell ausgebildeten Malern der Malakademie der südlichen Song-Zeit zugeschrieben wurden.
In Cui Zhenkuans Werk sieht man an seinen Bildern immer wiederkehrende Formeln und somit eine ganz eigene Formensprache. Seine Methode (fa 法) ist die der „gebrannten Tusche“ (jiaomo 焦墨), was so viel wie einen deutlich sichtbaren trockenen Pinselstrich bedeutet.
Auch in seinen Schriften erwähnt Cui explizit Methoden der traditionellen chinesischen Malerei: Sie umfasse nämlich „Texturestriche (cun 皴), Reiben/kratzen (ca 擦) und wässrigen Auftrag (ran 染)“. Und in den Titeln seiner Bilder wird dies auch deutlich, wenn er von der „Textur des Berges“ (shan zhi cun – 山之皴) spricht.
3. Verbindung zur Schriftkunst (Kalligraphie):
Eine Nähe der Malerei zur Kalligraphie ist zunächst durch die gleichen Werkzeuge gegeben – Pinsel und Tusche. Darüber hinaus besteht die chinesische Schrift ursprünglich aus Bildern. In vielen piktographischen Schriftzeichen ist dieser Ursprung noch zu erkennen wie bei dem Zeichen für Baum: 木 (mu). Ein Gedanke ist jedoch zentral für diese Verbindung: Wichtiger als die Farbe (wie in der westlichen Malerei), die eher als vulgär (su 俗) empfunden wird, ist in der chinesischen Malerei die Linie und der dynamische Pinselstrich wie in der chinesischen Kalligraphie. Der berühmte zeitgenössische Ästhetiker Li Zehou 李泽厚sprach der Linie sogar eine geistige Qualität zu (man kann ihr folgen) – der Farbe hingegen eine sinnliche.
So war der Einsatz von Farbe in der traditionellen chinesischen Malerei sehr begrenzt (sie wurde vor allem von den professionellen Malern genutzt); in der Literatenmalerei (wenrenhua 文人画) vermochte man hingegen, die ganze Farbigkeit der Welt mittels schwarzer Tusche auszudrücken. So gibt es im Tuscheauftrag unendlich viele Differenzierungsmöglichkeiten (zwischen trocken und wässerig).
In Cui Zhenkuans Werk ist das Zusammenspiel von Pinsel und Tusche – wie in der Kalligraphie – zentral. Wie bereits erwähnt ist sein Merkmal der trockene Pinselstrich „gebrannter Tusche“ (jiaomo). Sein Werk bildet gleichsam einen Tanz von Pinselstrichen. So schreibt er von einem Rhythmus von Linien und Punkten, wobei die Linie bei ihm verlängerte Punkte, und Punkte eine verkürzte Linie darstellen. Auch schreibt er zum Unterschied zwischen Ost und West, dass im Westen Schwarz keine Farbe und die Linie nur zum Umriss da sei.
Ein wichtiges Merkmal ist schließlich das Zusammenspiel zwischen Malerei und Kalligraphie in den Aufschriften auf Bildern. In der westlichen Malerei sind Aufschriften auf Bildern sehr selten, in China gehören sie hingegen gleichsam dazu. Einerseits stellen sie – als Gedicht oder Kommentar – eine inhaltliche Verbindung her; andererseits sind sie (auch zusammen mit den roten Stempeln) ein wichtiges Element in der Bildkomposition.
Cui Zhenkuan weist in seinen Schriften immer wieder auf diese Verbindung seiner Malerei zur Kalligraphie hin. Das unterstreicht, worauf ich gerne hinweise, dass die Kalligraphie (als Teil der Sprache/Schrift) – neben der Yin-Yang-Symbolik – eine wesentliche Grundlage nicht nur der chinesischen Ästhetik, sondern auch einer chinesischen Identität zu sehen ist.
4. Einheit von Natürlichkeit/Spontaneität und Übung
Traditionell gesehen – und in idealer Weise – geschieht künstlerisches Schaffen wie das unergründliche Wirken und Schaffen der Natur (dao 道). Entsteht ein Kunstwerk wie das Werk der Natur, so spiegelt es – wiederum idealerweise – unergründliche spirituelle Qualitäten (shen 神) wider, die dem Wandel der Dinge zugrunde liegen. Diese Sichtweisen sind dem Einfluss der Philosophie des Daoismus zuzuschreiben.
Allerdings ist, um dieses Stadium zu erreichen, lange und ausdauernde Übung (chines.: gongfu 功夫) bzw. handwerkliche Fähigkeit erforderlich. Die Führung des Pinsels in der Malerei muss – wie der Gebrauch des Pinsels in der Schriftkunst – über viele Jahre gelernt werden. Erst auf der höchsten Stufe der Meisterschaft und Perfektion – also nach langem Üben – kann der Schaffensprozess natürlich, spontan ("von selbst so" – ziran 自然) und wie das Werk der Natur geschehen. Dies manifestiert sich dann in einem vollkommenen Kunstwerk von wiederum "spiritueller/unergründlicher Qualität" (shen pin 神品), das keine Spuren seines künstlerischen Entstehungsprozesses verrät. Also Übung (handwerkliche Fähigkeit) führt erst zu Natürlichkeit und Perfektion.
Letztlich geht es darum, durch Üben von Methoden/Regeln über diese hinausgehen. So hat auch Cui Zhenkuan von Huang Binhong gelernt, ist aber über ihn hinausgegangen und ist selbst Meister geworden.
Es gibt eine Aufschrift auf einem Bild von Zheng Banqiao 郑板桥 (18. Jh.), das diesen Sachverhalt erläutert:
„Regeln sind nur Regeln für Anfänger. Die Kunst geht nicht derart vonstatten. Das ist nur am Anfang so, doch dann braucht man ein ganzes Leben, um seine Kenntnisse zu vervollständigen. Fast alle Maler der Vergangenheit nahmen die Schöpfung als ihren Lehrer. Deshalb, so wie der Himmel Leben verleiht, so versuche ich zu malen.
Ich füge ein Gedicht hinzu:
Wie könnte ich behaupten, meine Bilder würden keinen Vorbildern folgen?
Auch ich hatte eine Zeit des Lernens als Anfänger.
Ich will malen, bis sich mir die Geheimnisse der Natur enthüllen,
keinen modernen Stil, keinen alten Stil – nur nach dem Wissen meines eigenen Herzens."
Diese Aufschrift dürfte auch treffend Cui Zhenkuans Werk und seinen Ansatz beschreiben. Er selbst schrieb einmal, er sei wie „ein Drachen ohne Schnur“. Er ist also davongeflogen und hat selbständige Meisterschaft erlangt (zi cheng yi jia 自成一家).
Ich komme zum Schluss. Der ästhetische Kern der chinesischen Malerei ließe sich vielleicht so fassen: Es geht um Lebendigkeit, „Vermittlung von etwas Geistigem“ (chuan shen 传神), poetische Qualitäten, Yin-Yang-Harmonie (z.B. im Zusammenspiel von Fülle und Leere) sowie natürliche Kreativität. Von Xie He 谢赫, einem Theoretiker des 6. Jh., gibt es einen Kanon von Regeln zur Malerei. Davon lautetet die erste: Ein Bild soll einen „harmonischen Ausdruck geistiger Kraft“ darstellen und sich in „Lebendigkeit“ äußern (qiyun shengdong 气韵生动).
Diese etwas dunkle Formulierung lässt sich dahingehend verstehen, dass sich die harmonische Vitalkraft (qiyun) des Künstlers in entsprechend lebendiger Bewegtheit (shengdong) in einem Werk der Malerei erahnen lässt, oder anders formuliert, dass in einem Werk eine geistige Kraft spürbar sein soll, die sich als bildliche Lebendigkeit manifestiert. Um qiyun sichtbar zu machen, muss der Maler mit seinen geistigen Kräften die Dinge bzw. die Szene, die er zu malen beabsichtigt, nicht nur äußerlich überzeugend (was Form und Farbe angeht), sondern auch innerlich, lebendig und bedeutungsvoll, durchdrungen vom Beben des Lebensatems (qi 气), darstellen.
Dies sind Prinzipien, die in der Moderne nicht an Bedeutung verloren haben – wie man auch und gerade in Cui Zhenkuans Werk sehen kann.
Die chinesische Moderne zeigt trotz "Hybridität" (globaler Vermischung) vielfältige Anzeichen von kulturell relevanten Konstanten – verpackt in eine Sprache der Moderne. Cui Zhenkuans Sprache der Moderne sieht man z.B. in der Verwandtschaft seiner Arbeiten zu denen von Jackson Pollock oder Mark Tobey.
Wir sehen also eine Beständigkeit der Tradition (Pinsel und Tusche; kalligraphische Qualitäten), aber auch Innovation aus der Tradition heraus sowie verschiedenste Anspielungen auf die Tradition, sei es durch Landschaft und Formeln oder „kultivierte Unbeholfenheit“ (zhuo拙). Vor allem ist es eine Ästhetik, die auf der Kalligraphie (Linie, Zeichen) basiert.
Es ist somit eine eigene und uns zunächst fremde Kunstwelt und Ästhetik, die es jedoch lohnt, dass man sich näher damit befasst – so auch mit Cui Zhenkuans Werk. Es gilt, eine andere Kunst und deren Tradition kennenzulernen, aber dadurch auch eine andere und faszinierende Welt zu entdecken, was eine große Bereicherung darstellt.
Ich möchte schließen mit einem Zitat von Cui Zhenkuan:
„Die chinesische Malerei fängt die ganze Farbigkeit der Schöpfung durch eine Welt von Schwarz und Weiß ein, wobei mit Hilfe von einfachem Schwarz und Weiß die unendlichen Wandlungen von Himmel und Erde dargestellt werden können.“
Nun möchte ich Sie einladen, zusammen mit mir diese besondere Kunstwelt, diese Welt der unendlichen Wandlungen, in Cui Zhenkuans Werk zu erkunden.
Prof. Dr. Karl-Heinz Pohl
Sinologe